Alles über Stevia, Steviolglycoside und den großen Bluff

Der Lebensmittelzusatzstoff E960 ist ein Produkt der Chemieindustrie und hat nur noch wenig mit dem Urwald zu tun

Der jetzt zugelassenen Süßstoff Steviolglycosid ist alles andere als ein natürliches Süßungsmittel. Die Substanz wird vielmehr in aufwendigen Prozessen von der pharmazeutisch-chemischen Industrie aus Stevia-Blättern gewonnen. Von Natur pur keine Spur. Ab dem 2. Dezember 2011 sind Steviolglycoside als Lebensmittelzusatzstoff (Süßstoff) zugelassen. Die Zulassung von Stevia-Blättern oder Produkten daraus als Lebensmittel oder Süßungsmittel, die viele Verbraucher sehnlich erwartet haben, hat hingegen nicht stattgefunden. Stevia darf in der EU weiterhin ausdrücklich nicht als Lebensmittel oder Süßungsmittel angeboten oder verkauft werden. Aber Steviolglycoside haben keinerlei Vorteile gegenüber anderen mehr oder weniger künstlichen Süßstoffen. Steviolglycoside sind mit der E-Nummer 960 zu kennzeichnen. Die Menschen, die auf ein natürliches Süßungsmittel ohne Kalorien gewartet haben, bleiben unbefriedigt. Stevia-Blätter oder Granulate aus getrockneten Stevia-Blättern dürfen weiterhin eben nicht als Süßungsmittel verkauft werden. “Ich rate meinen Patienten, sich eine Stevia-Pflanze zu kaufen und die Blätter abzuwaschen, trocken zu tupfen und getrocknet oder frisch zum Süßen zu verwenden. Das ist Natur pur”, erklärt Ernährungswissenschaftler Sven-David Müller. Er ist Autor des einzigen deutschsprachigen populärwissenschaftlichen Sachbuches über Süßstoffe, das den Titel Mythos Süßstoff trägt und ein Sonderkapitel “Alles über Stevia” enthält.

Alles über Stevia

Die Stevia-Pflanze (Stevia rebaudiana) ist eine blattreiche, krautige Pflanze, die in den Subtropen wächst. Ursprünglich insbesondere in Argentinien, Brasilien und Paraguay. Zudem wird sie in Monokultur industriell in vielen Ländern Asiens angebaut. Die Blätter schmecken süß, da sie süßschmeckende Substanzen (Steviolglycoside) enthalten. Diese sind 200 bis 300mal süßer als Zucker. Aber Stevia-Blätter sind nicht die einzigen Pflanzenbestandteile, die süß schmecken. Auch Blätter des chinesischen Brombeerstrauchs schmecken süß.

Steviolglycoside kommen aus den Laboren und nicht aus dem Urwald
Aber Steviolglycoside aus den Laboren der Chemieindustrie bringen keinerlei Vorteile gegenüber bereits lange zugelassenen Süßstoffen. Einige davon haben ebenfalls eine rein natürliche Quelle. Dazu gehören Neohesperidin DC aus der Schale von Bitterorangen, Thaumatin aus der Katemfe-Frucht oder Aspartam aus zwei natürlichen Eiweißbausteinen. Auch das Argument, dass mit Stevioglycosiden kalorienfrei gesüßt werden kann, ist ein Marketinggag, denn alle Süßstoffe sind kalorienfrei oder praktisch kalorienfrei. Damit besteht bereits seit dem Jahr 1879, in dem der deutsche Chemiker Professor Dr. Constantin Fahlberg den Süßstoff Saccharin entdeckte, die Möglichkeit, kalorienfrei und damit auch figurfreundlich zu süßen. Wissenschaftliche Studien beweisen, dass Süßstoffe in der Lage sind, beim Abnehmen zu helfen. Als Mastmittel wurden und werden sie nicht eingesetzt. Auch wenn Lobbyisten das anders kolportieren. Auch sind alle anderen Süßstoffe genauso wie Steviolglycoside nicht karriolen und beeinflussen den Blutzuckerspiegel sowie Insulinspiegel nicht.

Stevia-Süßstoff aus dem Chemielabor
Wer bei Stevia-Süßstoff an Natur denkt, muss sich eines Besseren lehren lassen, denn Steviolglycosid Präparate werden in der Chemieindustrie in aufwendigen und nicht gerade naturnahen Prozessen durch Extraktion aus den Stevia-Blättern gewonnen, mit anschließender Konzentrierung, Reinigung und (meistens) Sprühtrocknung. Ohne Lösungsmittel und andere Chemikalien, die Farbstoffe und weitere unerwünschte Substanzen aus dem Gemisch herausholen, geht da überhaupt nichts. Trocknung, dann Mazeration, Fällung und Entfärbung, Ionenaustausch und mehrfache Kristallisation. Das getrocknete Extrakt aus der Chemiefabrik ist ein weißer bis leicht gelblicher, kristalliner, geruchsarmer mit einem leichten charakteristischen Geruch, wasserlöslicher Puder. Vor Reinigung und Standardisierung zu den definierten Standards und Spezifikationen, enthalten Steviolglycosid Präparate in der Regel die Glycoside Steviosid (CAS N° 57817-89-7) und Rebaudiosid A (CAS N° 58543 -16-1), in unterschiedlichen Mengen, zusammen mit Spuren anderer Stevio Glycoside, wie Rebaudiosid B sowie C, Dulcoside A, Rubusoside und Steviolbioside.

Vorteile von Steviolglycosiden gibt es nur für die Industrie
Was ist dann der Vorteil der nicht ganz so natürlichen Steviolglycoside? Sie schmecken unangenehm und sind teuer. In Lebensmitteln sind Steviolglycoside in Reinform kaum zu verwenden und müssen um ein akzeptables Geschmackserlebnis zu garantieren mit Zucker, Zuckeraustauschstoffen oder anderen Süßstoffen gemischt werden. Eine vollständige Unbedenklichkeit von Steviolglycosiden ist nicht bewiesen und daher wurde ein ADI-Wert festgelegt, der die Verbraucher vor überdosierungsbedingten Schäden schützen soll. In mehr als zweifelhaften Studien kam es zu Verdachtsmomenten, dass Steviolglycoside genotoxisch, krebserregend sowie fruchtbarkeitshemmend sein könnten. Experten gehen jedoch jetzt von einer Unbedenklichkeit der Stevia-Blätter und auch von Steviolglycosiden aus, sofern kein übermäßiger Verzehr oder Konsum stattfindet. Kinder können den ADI-Wert leicht gefährlich deutlich überschreiten. Experten warnen jetzt schon davor. Auch sollte Steviolglycosid in nur möglichst geringen Mengen in Erfrischungsgetränken zum Einsatz kommen. Einerseits schmeckt das Ergebnis – also das Getränk – in der Regel nicht wirklich gut und andererseits werden Erfrischungsgetränke leicht in so großen Mengen getrunken, dass hier eine Überschreitung des ADI-Wertes denkbar ist.

Der Verbraucher wird über Stevia hinters Licht geführt
Es ist bedauerlich, dass der Verbraucher jetzt mit der Zulassung von Steviolglycosiden anstatt Stevia-Blättern regelrecht hinters Licht geführt wird. Die negative Ökobilanz und die Monokulturen, in denen Stevia industriell angebaut wird, bleiben hinter dem Deckmäntelchen der vorgeblich so natürlichen Steviolglycoside unerwähnt. Steviolglycoside sind ein gefundenes Fressen für die Lebensmittelindustrie, die jetzt mit dem Argument “Natur pur”, das nur für Stevia-Blätter gelten könnte, werben kann und ihre Gewinne auf Kosten der fehlinformierten Verbraucher maximiert. So nicht; möchte man ausrufen! Steviolglycoside sind eben keine Stevia-Blätter. Es bleibt abzuwarten, wie lange es dauert, bis genmanipulierte Stevia-Sorten mit einem hohen Steviolglycosid-Anteil in den Blättern auf dem Markt sind oder gar im Labor synthetisiertes Steviolglycosid als natürlich verkauft werden. Der Verbraucher ist wieder mal verarscht worden. Schade, denn mit der Zulassung von Stevia-Blättern als Süßungsmittel oder zumindest Lebensmittel wäre das vermeidbar gewesen.

Nach dem Stevia-Hype kommt der Lebensmittelzusatzstoff E960
Ob im Rahmen des Stevia-Hype jetzt auch der Lebensmittelzusatzstoff E960 in Biolebensmittel kommt, ist eine interessante Frage. Wenn diese mit Ja
beantwortet werden wird, dann war der ganze Hype über Jahre von der Lebensmittelindustrie lanciert, die Stevia-Süßstoffe in ihren Labors herstellt. Von Natur keine Spur – aber große Umsätze bei einer schlechten

Ökobilanz und einer Spur von Verbraucherbetrug – da bleibt ein unangenehme
“Geschmäckle” zurück und damit ist nicht der leicht bittere Geschmack von Stevia-Blättern und Steviolglycosiden gemeint. Grundsätzlich empfehle ich, weniger Süßungsmittel zu verwenden, um sich den Geschmackssinn zu erhalten und die Speisen nicht zu sehr zu “versüßen”, erklärt Sven-David Müller, Master of Science in Applied Nutritional Medicine (Angewandte Ernährungsmedizin), abschließend. Der Medizinjournalist ist staatlich anerkannter Diätassistent, Diabetesberater der Deutschen Diabetes Gesellschaft und wurde für seine Verdienste um die Ernährungsaufklärung mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Weitere Informationen unter www.svendavidmueller.de.

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